Antrag: Aufarbeitung rechter Gewalterfahrungen in der DDR und Transformationszeit in Erfurt

Die Stadtverwaltung wird beauftragt, zusammen mit der Universität Erfurt eine Kooperation hinsichtlich wissenschaftlich-partizipativer Forschung für die Aufarbeitung rechter Gewalterfahrungen in Erfurt Ende der 1980er bis in die 1990er Jahre zu prüfen. Dabei sollen insbesondere die Perspektiven verschiedener gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen – migrantisch gelesene Personen, Jüdinnen und Juden, Menschen, die sich Subkulturen zugehörig fühlen, queere und queer gelesene Personen, Menschen mit Behinderung – einbezogen und wissenschaftlich fundierte Ansätze mit partizipativen Formaten für eine Aufarbeitung in der Stadtgesellschaft verbunden werden. Die Ergebnisse entsprechender Gespräche werden im II. Quartal 2025 vorgelegt.

Begründung:

Die Stadt Erfurt hat eine wechselvolle Geschichte, die auch stark durch Diktatur- und Transformationserfahrungen geprägt ist. Ein bisher unzureichend aufgearbeiteter Aspekt ist der Umgang mit rechter Gewalt in der DDR und Transformationszeit, welche bis heute erhebliche Auswirkungen auf die Lebenswelt unterschiedlicher Mitglieder der Stadtgesellschaft hat und in der kollektiven Erinnerung ein blinder Fleck ist. Da Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit verschiedene Einstellungsmerkmale vereint, wie Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und -chauvinismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus, hat die zum Teil offene, teilweise latente Gewalt der Vor- und Nachwendezeit verschiedenste Bevölkerungsgruppen in allen Stadtgebieten betroffen und gesellschaftliche Strukturen nachhaltig beeinflusst.

Erstens wird mithilfe eines partizipativen Forschungsansatzes, bei dem die Erfahrungen Betroffener in den Forschungsprozess einfließen, die Vielschichtigkeit und Omnipräsenz von Phänomenen rechter Gewalt sichtbar gemacht und wissenschaftlich-kritisch analysiert. Mit dem Fokus auf die Vor- und Nachwendezeit können zweitens Traditionen und Kontinuitäten rechter Einstellungsmuster nachvollzogen, rechte Strukturen in der Erfurter Gesellschaft aufgedeckt sowie behördliche und staatliche Strategien im Umgang mit rechter Gewalt diskutiert werden.

So wurde Rassismus im SED-Staat nicht als solcher benannt, sondern systematisch unsichtbar gemacht. Die Behörden deklarierten rassistische Übergriffe als Einzelfälle, da Fremdenfeindlichkeit nicht in das offizielle Bild der sozialistischen, d.h. internationalistischen und solidarischen, Gesellschaft passte. Diese Verdrängung trug dazu bei, dass rassistische Gewalt und Diskriminierung tief in der Gesellschaft verwurzelt blieben und in der öffentlichen Erinnerung bis heute kaum aufgearbeitet wurden. Rassistische, antisemitische, sozialdarwinistische und -chauvinistische, nationalistische und queerfeindliche Einstellungen blieben in der postnationalsozialistischen Gesellschaft tief verankert; die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit beschränkte sich auf eine Heldenerzählung des kommunistischen Widerstands und war damit Teil der Legitimationsstrategie der SED-Diktatur.

Die Anerkennung diskursiver Kontinuitäten in sozialen Norm- und Moralvorstellungen als auch gewalthafter Traditionslinien im sozialen Miteinander widerstrebten dem Selbstverständnis der SED und der Utopie ihrer solidarischen und sozial gerechten Gesellschaftsordnung. Die tradierten Rassismen, deren Ursprünge mindestens bis in die Hochzeit des europäischen Kolonialismus Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen, wurden in den staatlichen Strukturen und dem institutionellen Gefüge des SED-Staates verstetigt und verstärkt. Antisemitische Einstellungsmuster aus der NS-Zeit wurden in der sozialistischen Kapitalismuskritik reproduziert.

Auch Angriffe auf marginalisierte Subkulturen sind ein Kontinuum in der DDR, so auch in Erfurt, angefangen bei der Unterdrückung von Langhaarigen und Bluesern bis hin zu Punks, die an öffentlichen Orten wie Kneipen auch körperlich angegriffen wurden. In der sozialistischen Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sein sollten, bedeutete jede Form der Abweichung von der Norm und ein Bekenntnis zum Individualismus Kritik am SED-Staat. Geschlechtervielfalt und freie sexuelle Entfaltung galten als soziale Devianz und kapitalistische Dekadenz, die in der konservativ geprägten DDR-Gesellschaft keinen Platz hatten. Im leistungsorientierten SED-Staat, der sich selbst als Meritokratie bezeichnete, wurden auch Menschen mit Behinderungen und sonstigen physischen und psychischen Einschränkungen nicht als vollwertige Gesellschaftsmitglieder angesehen. Dabei verband sich staatliches Handeln mit gesellschaftlicher Dominanzkultur.

Ein Höhepunkt rassistischer Gewalt in der DDR sind die Übergriffe von deutschen Jugendlichen auf algerische Vertragsarbeiter in Erfurt ab dem 10. August 1975. Die Angreifer jagten die Algerier durch die Stadt, schlugen sie und bewarfen sie mit Steinen. Trotz polizeilicher Maßnahmen und nachfolgenden Ermittlungen wurden die tieferliegenden rassistischen Strukturen, die diese Gewalt ermöglichten, nicht öffentlich thematisiert. Die Behörden werteten die Gewalteskalation als isolierten Vorfall und legten ihn bald ad acta. Diese pogromartigen Ausschreitungen sind der bekannteste und sichtbarste Ausschlag des omnipräsenten Alltagsrassismus und struktureller Rassismen, von denen ehemalige „ausländische Werktätige“ in Interviews berichten. Die damit reproduzierten Rassismen unterschiedlicher Ausrichtung kulminierten in zahlreichen gewaltsamen Übergriffen gegen migrantisch gelesene Personen: Dazu zählt der Tod des polnischen Erntehelfers Ireneusz Szyderski am 3. August 1990 infolge von Misshandlungen durch rechtsextreme Türsteher vor einer Disko in Erfurt-Stotternheim. Zwar wurde die Tat strafrechtlich verfolgt, doch blieb die politische Dimension des Angriffs dabei unberücksichtigt. Ähnlich verhielt es sich mit der strafrechtlichen Verfolgung und medialen Berichterstattung zu einem gewalttätigen Übergriff dreier Männer auf eine schwangere Nigerianerin am Erfurter Hauptbahnhof am 11. Januar 1994. Vor der Polizei gab die Betroffene zu Protokoll, sie sei verprügelt und gegen den Bauch getreten worden. Anstatt eines Verfahrens wegen schwerer Körperverletzung ermittelte die Polizei wegen Beleidigung, wobei die rechtsextreme Motivation hinter der Tat außen vor blieb. Diese systematische Ausblendung der rechten Motive verhinderte eine kritische Aufarbeitung rassistischer Denkmuster in der Erfurter Gesellschaft bis heute.

Ausdruck tief verwurzelten Antisemitismus in der DDR-Gesellschaft sind diverse Friedhofsschändungen seit Ende der 1970er Jahre. So ritzten in der Nacht zum 9. Juli 1983 Unbekannte 23 SS-Runen, Hakenkreuze und Parolen in die Grabsteine auf dem Erfurter jüdischen Friedhof und zogen sie mit Kerzenwachs nach. Sie warfen Grabsteine um, von denen einer zerbracht. Dieser Vorfall wurde zwar polizeilich verfolgt, tat der aggressiven antizionistischen Propaganda jedoch keinen Abbruch. Antisemitische Einstellungen blieben so bis in die Transformationszeit gesellschaftlich verankert, wie der Anschlag auf die Neue Synagoge in Erfurt am 20. Juli 1992 beweist. Dabei warf ein bekannter Neonazi zwei Schweineköpfe beschmiert mit antisemitischen Aussagen in den Vorgarten der Synagoge.

Nicht nur rassistische und antisemitische Einstellungen überdauerten die Systemgrenzen, auch sozialchauvinistische und queerfeindliche Denkmuster weisen eine erschreckende Kontinuität auf. Zeitzeug:innen berichten, dass Menschen mit individualisiertem Erscheinungsbild, die sich Subkulturen zugehörig fühlten oder queer waren, gesellschaftlich ausgegrenzt wurden und schließlich öffentliche Räume aus Angst vor Anfeindungen mieden. Ein Eskalationspunkt rechter Gewalt gegen subkulturell oder queer gelesene Menschen ist der Angriff zweier rechtsextremer Täterinnen auf Heinz Mädel am 25. Juni 1990, in dessen Folge der schwer Verletzte am 1. Juli 1990 verstarb. Sowohl bei den anschließenden polizeilichen Ermittlungen als auch der Gerichtsverhandlung blieben die rechten Motive hinter der Tat unberücksichtigt; eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen für diesen Gewaltausbruch fand nicht statt.

Sowohl die Vorfälle als auch die polizeilichen, juristischen und medialen Folgen und Reaktionen zeigen eine beunruhigende Kontinuität struktureller Rassismen, von Antisemitismus, Sozialdarwinismus und -chauvinismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus sowie deren intersektionalen Verschränkungen, die sowohl in der DDR als auch im wiedervereinigten Deutschland weitgehend ignoriert oder verharmlost wurden. Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung ist daher notwendig, um diskursive Kontinuitäten und gesellschaftliche Traditionslinien rechter und rechtsextremer Einstellungsmerkmale bis in die Gegenwart zu verstehen und wirksam zu bekämpfen. Gleichzeitig soll diese Aufarbeitung den Erfahrungen von rechter Gewalt betroffener Communities in Erfurt gerecht werden und ihnen Raum in der Erfurter Stadtgesellschaft verschaffen. Das Ziel ist eine inklusive und multiperspektivische Erinnerungskultur, die gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität ermöglicht und stärkt.

In den betroffenen Communities bestehen vielfache Erfahrungswerte, die bisher im konkreten Bezug zur Erfurter Stadtgeschichte kaum thematisiert, wahrgenommen oder gar aufgearbeitet sind. Die aufgeführten Beispiele sind das Resultat vorangegangener Recherchen in Archiven und Interviewprojekte. Da die archivalischen Überlieferungen nur lückenhaft und chiffriert über Phänomene rechter Gewalt berichten, ist die Einbeziehung der Erfahrungen betroffener Communities im Sinne einer partizipativen Erinnerungskultur wichtig und zielführend. Vor diesem Hintergrund ist ein wissenschaftlich-partizipativer Ansatz geboten, der die Erinnerungen und Erlebnisse marginalisiert gelesener Menschen in Erfurt ernst nimmt, sichtbar macht und zum Ausgangspunkt für eine geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung rechter Gewalt in Erfurt in der Vor- und Nachwendezeit nimmt. Dieses Vorgehen ermöglicht eine fundierte und differenzierte Auseinandersetzung mit der Erfurter Stadtgeschichte, die über bloße historische Rekonstruktionen hinausgeht. Dies ist entscheidend, wenn die Aufarbeitung der Vergangenheit dazu dienen soll, heutige und zukünftige Herausforderungen im Umgang mit rechten Einstellungsmerkmalen und Diskriminierung marginalisiert gelesener Gruppen in der Stadt zu bewältigen. Das Ziel ist es, der Stadtgesellschaft konkrete Ansätze für eine nachhaltige Aufarbeitung und Sensibilisierung vorzuschlagen, die sich auch in der künftigen städtischen Politik und Kultur widerspiegeln.

Insbesondere die Professur für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt mit einem Schwerpunkt auf Public History und ihrer Oral-History-Forschungsstelle hat sowohl in der Forschung mit Zeitzeug:innen und Betroffenen als auch mit den infragestehenden Themenbereichen viel Erfahrung und Kompetenzen aufgebaut. Vor dem Hintergrund ergibt es Sinn hier eine Kooperation für die Aufgabe des städtischen Aufarbeitungsprozesses zu etablieren. Es empfiehlt sich daher, dass die Stadtverwaltung auf die Leitung der Universität Erfurt sowie die entsprechende Professorin Dr. Christiane Kuller zugeht, um eine entsprechende Kooperation, die Rolle der Hochschule, konzeptionelle Vorstellungen der Forscher:innen und den Leistungsumfang der städtischen Aufgabenstellung zu erörtern sowie eine mögliche Co-Finanzierung eines entsprechenden Forschungsprojektes einzuwerben, sofern eine Zusammenarbeit in dem Rahmen aussichtsreich erscheint.


Zum Vorgang: https://buergerinfo.erfurt.de/bi/vo0050.php?__kvonr=59447

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